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Ausgabe 55 PANORAMA

Der Mythos der Chancengleichheit

Einer der vermutlich wichtigsten Grundsätze westlicher Zivilisation ist die Gleichheit aller Menschen, dabei ist es längst kein Geheimnis, dass westliche Gesellschaften, die dieses Gleichheitsideal zum Teil ihrer Identität machen, oft in gerade diesem versagen, sei es durch Rassismus, Sexismus oder Nationalismus.

Die emanzipatorischen Bewegungen machten besonders im letzten Jahrhundert große Fortschritte, voraussichtlich wird sich zumindest die ferne Zukunft in einer weniger rassistischen und sexistischen Welt abspielen. Leider ist Diskriminierung, wie die Ausbeutung gesamter Ethnien oder das geschlechtsspezifische Lohngefälle beweist, sehr profitabel, der Markt verlangt Diskriminierung, unser Wirtschaftssystem, der Kapitalismus und das Gleichheitsideal sind inkompatibel.

Unsere Großeltern erlebten die Blütezeit des Kapitalismus, eine Familie mit einem Gehalt zu ernähren, ein Haus zu besitzen und trotzdem finanziell abgesichert zu sein, waren erreichbare Ziele. Gewerkschaftsmitgliedschaften waren hoch und die gesamte Arbeiterklasse profitierte. Im Vergleich dazu ist das Leben des modernen Arbeiters häufig von sinkenden Reallöhnen, mangelnder Repräsentation und hohen Schulden geprägt, in den USA kann man sich sogar für eine Pizza verschulden. Wer unfreiwilliger weise von Schulden begraben wird, von Gehalt zu Gehalt lebt und für einen Hungerlohn arbeitet, kann nicht behaupten, freiwillig zu arbeiten. Ist das schon Sklaverei?

Nein, zu behaupten, dass der moderne Arbeiter unter sklavenähnlichen Zuständen arbeitet, ist nicht nur schlicht falsch, sondern relativiert auch das Leiden, laut der Walk Free Foundation, 49,6 Millionen Sklaven weltweit. Dennoch schränkt eine verschuldete Gesellschaft mit mangelnder sozialer Mobilität die Freiheit ihrer Mitglieder erheblich ein. 

Doch was ist soziale Mobilität? Vereinfacht erklärt stellt soziale Mobilität die Vermischung zwischen den verschiedenen Klassen, der Arbeiterklasse (Unter- & Mittelklasse) und der Oberklasse dar. Es besteht eine kausale Beziehung zwischen Einkommensungleichheit, oder auch der Schere zwischen Arm und Reich und geringer sozialer Mobilität.[1]  Ein entscheidender Faktor dieser Beziehung ist Bildung, besonders in Deutschland, wo Aufteilung in Ober-, Mittel- und Unterklasse scheinbar als Funktion ins Schulsystem eingebaut wurde. Aufstiegsmobilität ist nicht nur schwer erreichbar, sondern fast unmöglich.

In einer rein kapitalistischen Gesellschaft kann sich die Schere zwischen Arm und Reich nur erweitern, soziale Mobilität sinken und die Lebensbedingungen sich verschlechtern, je freier der Markt ist – desto gefangener werden die Menschen. Nicht der freie Markt hat uns unsere verhältnismäßig guten Lebensbedingungen geschenkt, sondern Gewerkschaften und sozialdemokratische bis sozialistische Politik. Eine gerechte Gesellschaft kann nicht durch die Hand des freien Marktes, sondern unter starkem Widerstand gegen diese entstehen. 

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