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Ausgabe 55 PANORAMA

Du hast so viel Talent!

Du hast so viel Talent! Du bist doch so talentiert! So viel Talent hätte ich auch gerne! Alle Kunstschaffenden kennen wahrscheinlich diese Ausdrücke, die man fast wie auf Kommando bei anderen Personen hervorrufen kann, wenn man doch nur ein gelungenes Bild zum Besten gibt.

Diese Aussagen sollen zwar wohlwollend klingen und Zustimmung ausdrücken, doch in der Welt der Farben und Formen ist die Frage nach dem berüchtigten „Talent“ stark kritisiert, denn nun mal ehrlich: Ist es so wahrscheinlich, dass man allein durch Talent Kunst erschaffen kann?  Kommt es beim Malen und Zeichnen nur auf das Talent an und ist Talent mit dem Begriff der Kunst überhaupt in Verbindung zu bringen?

Eigentlich bedeutet der Begriff des Talents, dass eine bestimmte Eigenschaft besonders ausgeprägt ist und sehr gut beherrscht wird. Doch wenn die übliche Aussage „Du bist so talentiert!“ ausgesprochen wird, wissen alle erfahrenen Kunstschaffenden, dass sich diese bewertende Aussage eigentlich auf die Qualität des Bildes bezieht und nicht auf die Kunst an sich. Meist erschaffen „talentierte“ Kunstschaffende nämlich im Allgemeinen Bilde möglichst naturgetreue und realistische Bilder, die mit natürlichen Proportionen und Farbgebungen übereinstimmen. Dabei wird dieses Wörtchen „Talent“ als einfache Erklärung für die gute Fähigkeit, Kunst zu erschaffen, benutzt. Es wird nicht berücksichtigt, ob die Malenden Anfänger oder Fortgeschrittene sind, das Maß an Übung und Erfahrung wird nicht beachtet. 

Doch, große Überraschung, hinter der Kunst steckt viel mehr als das einfache „Talent“: Vor allem geht es um Übung und Erfahrung. Bevor solche realistischen Zeichnungen entstehen können, muss das Auge geschult werden, die Zusammenhänge der Natur zu erfassen und diese in einfach zu zeichnende Formen einzuteilen. Diese Schulung des Auges ist die einzig mögliche Station auf dem Weg der Kunst, an der ein gewisses Talent zur Erfassung der Natur eine kleine Rolle spielt. Auch bei abstrakten Gemälden ist diese Übung und Erfahrung sehr wichtig, um die richtige Komposition der Farben und Formen zu finden. Um diese ganzen Erfahrungen zu sammeln, ist eine große Begeisterung für die Kunst und vielleicht auch etwas Durchhaltevermögen nötig, aber gewiss können diese individuellen Kunstgegenstände, die am Ende dieser Entwicklung stehen, nicht an dem Wort „Talent“ gemessen werden. Dieses Wort versucht, die Kunst anhand ihrer Qualität zu messen, doch in dem Reich der Farben und Formen, in dem alles seine eigene Individualität besitzt und man sich selbst in der eigenen Kunst wiederfindet und sich mit ihr entwickelt, kann eigentlich nichts an Wörtern wie Qualität oder Talent gemessen werden. Schlussendlich gibt es in der Kunst kein Richtig oder Falsch, kein großartiges Talent oder ein Maß anhand der Bilder. Es kommt darauf an, die eigene Sichtweise zu verdeutlichen, sich selbst und seine eigenen Werte zu verfestigen, die Gesellschaft widerzuspiegeln und vor allem die eigenen Gefühle, Interessen und Konflikte zum Ausdruck zu bringen. Und wenn schon, wenn die Kunst ganz und gar von Talent abhängig wäre, wozu sollte es ansonsten Kunstschulen und Kunstkurse geben, in denen jene Begeisterten und Erfahrenen lehren, Farben und Formen auf dem Papier tanzen zu lassen, wenn man doch nur Talent bräuchte?

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